Ilan Pappe: Israels rechtschaffene Wut und ihre Opfer in Gaza

Ilan Pappe hat einen Lehrstuhl im Department of History an der University of Exeter inne.
Englisches Original: http://www.zmag.org/znet/viewArticle/20151

Der Besuch meiner Heimat Galiläa fiel mit dem völkermörderischen Angriff Israels auf Gaza zusammen. Der Staat verbreitete sich über seine Medien und mithilfe seiner Akademiker einstimmig – und lauter sogar als während des verbrecherischen Angriffs auf den Libanon im Sommer 2006. Wieder schäumt Israel vor rechtschaffener Wut, die sich als zerstörerische Politik im Gazastreifen entlädt. Diese schreckliche Selbstgerechtigkeit ist wegen ihrer Unmenschlichkeit und Straflosigkeit nicht einfach nur ärgerlich. Vielmehr lohnt es, bei dem Thema zu verweilen, wenn man denn die internationale Ungerührtheit angesichts des Gemetzels in Gaza verstehen will.

Die Ungerührtheit gründet zuerst und vor allem auf reinen Lügen und einem Neusprech, der an die dunklen Tage Europas in den dreißiger Jahren erinnert. Alle halbe Stunde nennt eine Meldung im Radio und im Fernsehen die Opfer in Gaza Terroristen und ihre Abschlachtung durch Israel einen Akt der Selbstverteidigung. Israel präsentiert sich seinem eigenen Volk als rechtschaffenes Opfer, das sich gegen ein großes Übel verteidigt. Die akademische Welt wird herangezogen, um zu erklären, wie dämonisch und monströs der palestinensische Kampf ist, wenn er von der Hamas geführt wird. Das sind die gleichen Wissenschaftler, die einst den verstorbenen Palestinenserführer Yasser Arafat dämonisiert und seine Fatah-Bewegung während der zweiten Intifada herunter gemacht haben.

Aber die Lügen und verzerrten Darstellungen sind nicht das schlimmste. Am meisten erzürnt der direkte Angriff auf die letzten Überreste von Menschlichkeit und Würde des palestinensischen Volkes. Die Palestinenser in Israel haben ihre Solidarität mit der Bevölkerung von Gaza gezeigt. Nun werden sie als fünfte Kolonne im Jüdischen Staat gebrandmarkt; ihr Recht, in der Heimat zu bleiben, wird wegen mangelnder Unterstützung für die israelische Aggression in Frage gestellt. Diejenigen unter ihnen, die einverstanden sind – zu Unrecht, wie ich meine – in den örtlichen Medien zu erscheinen, werden verhört, nicht interviewt, so, als ob sie Insassen des Shin-Beth-Gefängnisses wären. Ihr Erscheinen wird von erniedrigenden rassistischen Bemerkungen umgerahmt, und sie werden beschuldigt, eine fünfte Kolonne zu sein, ein irrationales fanatisches Volk. Und das ist noch nicht einmal die übelste Praxis. Es gibt einige Palästinenserkinder aus den besetzten Gebieten, die in israelischen Krankenhäusern eine Krebstherapie machen. Gott weiß, was für einen Preis ihre Familien für die Einweisung haben zahlen müssen. Der israelische Rundfunk geht täglich ins Krankenhaus und fordert von den armen Eltern ab, dem israelischen Publikum zu erklären, wie recht Israel doch mit seinem Angriff habe, und wie böse die Hamas in ihrer Verteidigung sei.

Die Heuchelei, die sich aus rechtschaffener Wut speist, kennt keine Grenzen. Der Diskurs der Generäle und Politiker bewegt sich erratisch zwischen Komplimenten für die Menschlichkeit, die die Armee bei ihren chirurgischen Eingriffen zeigt, einerseits, und der Notwendigkeit, Gaza ein für alle mal – auf humane Weise natürlich – zu zerstören, andererseits.

Die rechtschaffene Wut ist ein beständiges Phänomen in der israelischen, und davor in der zionistischen Aneignung Palästinas. Jeder Akt, ob es nun ethnische Säuberungen waren, Besetzung, Massaker oder Zerstörung, wurde als moralisch gerecht und als reiner Akt der Selbstverteidigung dargestellt, widerwillig von Israel vorgenommen gegen die übelste Art menschlicher Wesen. In seinem ausgezeichneten Band The Returns of Zionism: Myths, Politics and Scholarship in Israel erforscht Gabi Piterberg die ideologischen Ursprünge und die historische Weiterentwicklung dieser rechtschaffenen Wut. Heutzutage kann man in Israel, von der Linken bis zur Rechten, von Likud bis Kadima, von der akademischen Welt bis zu den Medien diese rechtschaffene Wut eines Staates vernehmen, der mehr als jeder andere Staat auf der Welt damit beschäftigt ist, eine eingeborene Bevölkerung zu zerstören und zu enteignen.

Es ist von zentraler Bedeutung, die ideologischen Ursprünge dieser Einstellung zu erforschen und die notwendigen politischen Schlüsse aus ihrer Vorherrschaft zu ziehen. Diese rechtschaffene Wut schirmt Gesellschaft und Politiker in Israel von jedwedem äußeren Vorwurf ab, von jeder Kritik. Doch weit schlimmer: Immer wird sie in zerstörerische Politik gegen die Palästinenser umgesetzt. Ohne einen internen Mechanismus der Kritik und ohne Druck von außen wird jeder Palästinenser zu einem möglichen Ziel dieser Wut. Berücksichtigt man die militärische Stärke des Jüdischen Staates, so mündet dies unvermeidlich in noch massiverem Morden, Massakern und ethnischen Säuberungen.

Die Selbstgerechtigkeit ist ein starker Akt der Selbstverleugnung und Rechtfertigung. Sie erklärt, warum die israelisch-jüdische Gesellschaft weder durch Worte der Weisheit, noch durch logische Argumentation oder diplomatischen Dialog erschüttert werden kann. Und wenn man nicht Gewalt als Mittel dagegen einsetzen will, bleibt nur ein Weg nach vorn: Die Selbstgerechtigkeit herauszufordern als das, was sie ist: eine üble Ideologie, die als Deckmantel für menschliche Grausamkeiten dient. Ein anderer Name für diese Ideologie ist Zionismus. Und internationale Ächtung des Zionismus, nicht nur der spezifisch israelischen Politik, ist der einzige Weg, dieser Selbstgerechtigkeit zu begegnen. Wir müssen versuchen, nicht nur der Welt, sondern auch den Israelis selbst zu erklären, daß Zionismus eine Ideologie ist, die ethnische Säuberungen, Besatzung und jetzt auch massive Massaker gutheißt. Nicht nur einer Verurteilung des gegenwärtigen Massakers bedarf es jetzt, sondern auch einer Delegitimierung der Ideologie, die diese Politik hervorgebracht hat und sie moralisch und politisch rechtfertigt. Laßt uns hoffen, daß bedeutende Stimmen auf der Welt dem Jüdischen Staat sagen: Diese Ideologie und das allgemeine Verhalten des Staates sind nicht hinnehmbar, und solange sie bestehen bleiben, wird Israel boykottiert und Sanktionen unterworfen.

Ich bin allerdings nicht naiv. Ich weiß, daß sogar die Ermordung Hunderter unschuldiger Palestinenser nicht ausreichen wird, einen solchen Wandel in der westlichen öffentlichen Meinung hervorzurufen; es ist geradezu noch unwahrscheinlicher, daß die in Gaza verübten Verbrechen die europäischen Regierungen dazu veranlassen werden, ihre Politik gegenüber Israel zu ändern.

Und doch dürfen wir nicht zulassen, daß 2009 auch nur wieder ein weiteres Jahr sein soll, nicht so bedeutsam wie 2008, das Jahr der Erinnerung an die Nakba, das aber unser aller große Hoffnung in einen dramatischen Wandel der Einstellung der westlichen Welt zu Palästina und den Palästinensern enttäuscht hat.

Selbst die schrecklichsten Verbrechen, wie der Völkermord in Gaza, werden offenbar als einzelne Ereignisse behandelt, unverbunden mit irgendwelchen Situationen aus der Vergangenheit und ohne Bezug zu einer Ideologie oder einem System. In diesem neuen Jahr müssen wir versuchen, das Augenmerk der öffentlichen Meinung auf die Geschichte Palästinas und die Übel der zionistischen Ideologie zu lenken: als bestes Mittel dafür, sowohl völkermörderische Handlungen wie die jetzigen in Gaza zu erklären, als auch als Weg, um schlimmeren Dingen vorzubeugen.

Im akademischen Bereich ist dies bereits geschehen. Unsere Hauptherausforderung ist, den Zusammenhang der zionistischen Ideologie und der vergangenen Zerstörungspolitik mit der jetzigen Krise zu erklären. Das mag gerade dann leichter gelingen, wenn – unter den fürchterlichsten Umständen – die Aufmerksamkeit der Welt wieder einmal auf Palästina gerichtet ist. In Zeiten, in denen die Lage ruhiger und weniger dramatisch ist, wäre es schwieriger. In solch „entspannten“ Momenten würde die kurze Aufmerksamkeitsspanne der westlichen Medien wieder einmal die palästinensische Tragödie an den Rand drängen und vernachlässigen, entweder aufgrund schrecklicher Völkermorde in Afrika oder einer Wirtschaftskrise und ökologischer Weltuntergangsszenarien im Rest der Welt. Auch wenn die westlichen Medien nicht gerade an geschichtlicher Aufarbeitung interessiert sind, ermöglicht doch nur eine historische Bewertung, die Größe der über die letzten 60 Jahre am palästinensischen Volk verübten Verbrechen ans Licht zu bringen. Daher ist es die Aufgabe aktivistischer Akademiker und alternativer Medien, auf diesem historischen Zusammenhang zu bestehen. Die Aktivisten sollten nicht von der Aufklärung der Öffentlichkeit Abstand nehmen und hoffentlich sogar die gewissenhafteren Politiker dahin gehend beeinflussen, daß sie die Ereignisse in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang sehen.

Entsprechend könnten wir einen populären – im Gegensatz zum abgehobenen akademischen – Weg finden zu verdeutlichen, daß Israels Politik in den letzten 60 Jahren von einer rassistischen Hegemonialideologie namens Zionismus herrührt, geschützt durch endlose Schichten rechtschaffener Wut. Trotz der voraussehbaren Beschuldigung als Antisemiten, und was weiß nicht noch alles, ist es an der Zeit, im öffentlichen Verständnis die zionistische Ideologie mit den inzwischen bekannten historischen Meilensteinen des Landes zu verbinden: mit der ethnische Säuberung von 1948, der Unterdrückung der Palestinenser in Israel zur Zeit der Militärregierung, der brutalen Besetzung der Westbank, und nun mit dem Massaker von Gaza. Genauso wie die Apartheidsideologie die Unterdrückungspolitik der südafrikanischen Regierung erklärte, erlaubte es diese Ideologie – in ihrer allgemeinsten und simpelsten Form – allen israelischen Regierungen in Vergangenheit und Gegenwart, die Palästinenser zu entmenschlichen, wo auch immer sie sind, und ihre Vernichtung anzustreben. Die Mittel dazu änderten sich von Zeit zu Zeit, von Ort zu Ort, wie auch die Erzählungen, um diese Grausamkeiten zu verbergen. Aber das vorliegende klare Muster darf nicht nur im Elfenbeinturm diskutiert werden, sondern muß Teil des politischen Diskurses über die aktuelle Wirklichkeit im Palästina von heute werden.

Einige von uns, namentlich solche, die sich der Gerechtigkeit und dem Frieden in Palästina verschrieben haben, weichen, ohne es zu bemerken, dieser Debatte aus, indem sie sich – und das ist verständlich – auf die besetzten Gebiete Palästinas konzentrieren – das Westjordanland und den Gazastreifen. Gegen die kriminelle Politik dort zu kämpfen ist eine drängende Aufgabe. Aber dies sollte nicht die Botschaft vermitteln, die sich die im Westen herrschenden Mächte auf einen Wink Israels hin gern zueigen machen: Palästina sei nur das Westjordanland und der Gazastreifen, und Palästinenser seien nur die Leute, die in diesen Landstrichen leben. Wir sollten die Darstellung Palästinas geographisch und demographisch erweitern, indem wir den historischen Bericht über die Ereignisse von 1948 und die anschließende Zeit liefern und gleiche Menschen- und Bürgerrechte für alle Leute verlangen, die in dem lebten oder leben, was jetzt Israel und die besetzten Gebiete sind.

Indem wir die Ideologie des Zionismus und die Politik der Vergangenheit mit den gegenwärtigen Grausamkeiten verbinden, werden wir imstande sein, eine klare und logische Erklärung für die Boykott-, Desinvestions- und Sanktionskampagne zu liefern. Die gewaltlose Herausforderung eines selbstgerechten ideologischen Staates, der sich, unterstützt von einer schweigenden Welt, herausnimmt, die eingeborene Bevölkerung Palästinas zu enteignen und zu zerstören, ist eine gerechte und moralische Sache. Sie ist ein wirksamer Weg, sowohl die öffentliche Meinung gegen die gegenwärtige völkermörderische Politik in Gaza zu wappnen, als auch, hoffentlich, ein Weg, der zukünftige Grausamkeiten verhindert. Vor allem aber wird diese Herausforderung die Blase der selbstgerechten rechtschaffenen Wut aufstechen, die die Palästinenser erstickt, wann immer sie sich bläht. Die Herausforderung wird helfen, die westliche Ungerührtheit angesichts der Straflosigkeit israelischen Handelns zu beenden. Ohne diese Ungerührtheit werden hoffentlich immer mehr Leute in Israel anfangen, die wahre Natur der in ihrem Namen verübten Verbrechen zu erkennen, und ihre Wut dürfte sich gegen die richten, die sie und die Palästinenser in diesem unnötigen Teufelskreis von Blutvergießen und Gewalt gefangen halten.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Rosenlecher und T:I:S, 6. Januar 2009
URL dieses Beitrags: http://www.steinbergrecherche.com/09selbstgerechtigkeit.htm#pappe

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